D Überprüfung der Ansätze

Unbestritten ist, daß eine Rechtsordnung einem Einzelnen das Recht geben muß, sich in Not selbst zu verteidigen, soweit die Gemeinschaft hierzu nicht in der Lage ist. Ebenso unproblematisch dürfte sein, daß eine solche Notwehrtat eine gewisse Außenwirkung hat und beweist, daß Angriffe auf Rechtsgüter nicht folgenlos hingenommen werden.

Im folgenden soll anhand von ausgewählten Notwehrproblemen untersucht werden, ob wirklich beide Ansätze für das Verständnis der Notwehr benötigt werden.

I. Nothilfe gegen den Willen des Opfers

Fall: A haut dem B auf die rechte Backe, der christlich gesinnte B hält dem A nun auch die andere hin.68 Er schreit den Täter jedoch an, er solle aufhören, bringt es aber nicht übers Herz, ihn zu schädigen. C meint einschreiten zu dürfen und hält den A nun seinerseits mit einer schallenden Ohrfeige von dessen Ansinnen ab.

1. Monistische-individuelle Lösung

Aus einer monistisch-individuellen Sichtweise ist dieser Fall ohne Probleme zu lösen: Das Vorliegen eines notwehrfähigen Angriffs entbindet das Opfer von der sonst zu übenden Solidarität gegenüber dem Angreifer. Entscheidet sich der Angegriffene dennoch dafür, dem Täter mehr Schonung zukommen zu lassen als er eigentlich müßte, darf sich ein Dritter nicht darüber wegsetzen.69

2. Dualitische Lösung

Interessanterweise argumentiert ein Teil der Vertreter einer dualistischen Lehre hier genauso.70 Das ist insofern erstaunlich, als es zumindest in den Fällen, in denen die Einwilligung des Opfers nicht aller Welt deutlich vor Augen geführt wird, ein Schaden für das Rechtsgüterschutzsystem entsteht - schließlich wird folgenlos demonstriert, daß man - um beim Fall zu bleiben - Christen schlagen darf. Insoweit ist Spendel konsequent, wenn er eine Nothilfe auch gegen den Willen des Opfers zuläßt, solange dessen Einwilligung nicht die Rechtswidrigkeit der Tat ausschließt.71

3. Monistisch-überindividuelle Lösung

Ebenso konsequent muß eine monisitsch-überindividuelle Ansicht die Nothilfe gegen den Willen des Opfers zulassen.72

4. Ergebnis

Die Zulässigkeit von Nothilfe gegen den Willen des Opfers läßt sich plausibel aus einer individualistischen Sicht verneinen und aus überindividuellen Überlegungen rechtfertigen. Wenig überzeugend ist hier der dualistische Ansatz, der rein individuell argumentiert und nicht auf Rechtsgüterschutzgedanken eingeht.

II. Angriff auf überindividuelle Güter

Fall 1: Terrorist T setzt zu einer "Knastsprengung" an. Passant P hindert ihn gewalttätig daran.

Fall 2: Bürger B hindert den Spion S daran, sich ins Ausland abzusetzen, indem er ihn in den Keller einsperrt.

Abwandlung: In einer sich zuspitzenden Krise versucht der Spion S, mit den gesamten Verteidigungsplänen der Bundeswehr die Grenze zu überschreiten, um sie einer feindlichen Macht für einen Angriffskrieg zu verkaufen. Bürger B nimmt die letzte sich bietende Gelegenheit wahr und erschießt ihn kurz vor der Grenze.

1. Lösungen für Fall 1

Unproblematisch ist zumindest Fall 1. Hier ist sozusagen ein "individuelles" Gut des Staates - nämlich das Eigentum - gefährdet. Es wäre unverständlich, wollte man zwar die Nothilfe zugunsten einer juristischen Person zulassen73, nicht aber, wenn ein Gut des Staates bedroht ist.

Auch für eine monistisch-überindividuelle Sichtweise ist dieser Fall unproblematisch74 und wird folglich auch von den Vertretern einer dualitischen Notwehrlehre nicht anders gelöst75.

2. Lösung für Fall 2

a) Monistisch-individuelle Lösung

Schwieriger ist dagegen Fall 2 zu lösen. Eine individuelle Notwehrbegründung muß hier ein Notwehrrecht des Täters verneinen, weil keine individuellen Güter betroffen sind.76

b) Monistisch-überindividuelle Lösung

Genauso klar müßte das Ergebnis bei einer rein überindividuellen Erklärung sein. Gerade wenn kein individuelles Rechtsgut betroffen ist, zeigt sich, daß die Notwehr in erster Linie dem Schutz der Rechtsordnung dient.77 Interessanterweise wird diese Konsequenz aber nicht von allen Vertretern dieser Richtung gezogen. Das wichtigste Argument ist, daß nur der Staat berechtigt ist, sich selbst zu schützen.78 Flankierend wird angeführt, dem Bürger fehle der Einblick in die komplizierten Vorgänge des Staates,79 und ein Staatsnotwehrrecht könnte zur Legalisierung des Bürgerkrieges und politischen Morden führen80. Beide Argumente sind sicherlich richtig - allerdings scheint es sich hier weniger um Notwehrprobleme als mehr um Irrtumsfragen zu handeln. Außerdem wird nicht ganz klar, warum beim Angriffs des Bürgers auf den Bürger das Recht so stark gefährdet ist, daß der einzelne es verteidigen darf, nicht aber, wenn der Staat als Schützer dieses Rechtes bedroht ist.

c) Dualistische Lösung

Vollends verwirrend wird die Situation, wenn man die Dualisten betrachtet. Das RG läßt die Staatsnothilfe zu, weil der Staat ebenso geschützt sei wie sonstige Rechtsgüter81; der BGH verneint sie, weil der Nothelfer dem Träger des Rechtsgutes gleichgestellt sei82. Die beiden Ansichten gehen also in der Auslegung des Merkmals "einem anderen" auseinander. Richtigerweise sollte man davon ausgehen, daß der Staat "der ganz Andere"83 ist. Es wäre unverständlich, warum der Staat für sich ein Gewaltmonopol in Anspruch nehmen sollte, um dann dem einzelnen wieder zu gestatten, daß er typisch staatliche Gewalt ausübt.84

3. Lösung der Abwandlung

Diese Sichtweise ändern sich, wenn der Staat in der konkreten Situation machtlos geworden ist und sich nicht mehr selber helfen kann - wie in der Abwandlung zu Fall 2. Dieser Fall unterscheidet sich auch grundlegend von Situationen, in denen der Staat z.B. von einer Geldfälscherbande nicht weiß oder ein Spion Intimitäten über einen Kanzler ausplaudern könnte. Hier ist der Staat zwar in der konkreten Situation machtlos, aber nicht in seiner Macht insgesamt bedroht. Ist eine solche Gefahr aber gegeben, unterscheidet sich der Staat nicht mehr von seinen Bürgern. Nothilfe muß in dieser Lage zulässig sein.85

Zum gleichen Ergebnis gelangt man, wenn man bedenkt, daß in den besprochenen Fällen der Staat in seiner Existenz unmittelbar bedroht ist und damit auch unmittelbare Einbußen für jeden einzelnen Bürger drohen.

4. Ergebnis

Nothilfe zugunsten von "individuellen" Gütern des Staates läßt sich nach allen Ansätzen begründen.

Bei sonstigen Rechtsgütern des Staates ist die Zulässigkeit von Nothilfe aus individueller Sicht zu verneinen. Ebenso folgerichtig wäre sie vom überindividuellen Standpunkt aus zu bejahen. Daß diese Konsequenz nicht von allen gezogen wird, spricht gegen die betreffenden Autoren, aber nicht gegen den Ansatz. Die dualistische Theorie kann dagegen nicht klarmachen, warum sie Nothilfe zulassen will oder nicht.

Ist der Staat in seiner Mächtigkeit bedroht, läßt sich Nothilfe wieder nach alle Ansätzen begründen.

III. Ausweichpflicht

Fall: Zwischen den Soldaten H und A ist es wiederholt zu tätlichen Auseinandersetzungen gekommen. Die Angriffe gingen dabei jeweils von H aus. Um vor seinen Kameraden nicht als Feigling dazustehen, wendet sich A nicht an seine Vorgesetzen und versucht auch nicht den Kämpfen durch Flucht aus dem Weg zu gehen. Als es zu einem erneuten Angriff Hs kommt, sticht A auf H mit einem Messer ein und fügt ihm schwere Verletzungen zu.86

1. Indiviualisitsche Argumentation

Rechtsprechung und ein Teil der Lehre fordert vom Angegriffenen kein Ausweichen, wenn es sich als "schimpfliche Flucht" darstellen würde.87 Richtiger dürfte es hier allerdings sein, nicht auf das "gewissermaßen altdeutsch-mannhaft, empfindsame Ehrgefühl"88 abzustellen, sondern auf die Einschränkung des Selbstbestimmungsrechtes, welches auch durch Flucht nicht beseitigt würde89. Wobei sich freilich die besonderes Schneidigkeit erst aus der Tatsache ergibt, daß der Täter durch seinen Angriff das Opfer von der Pflicht zur sozialen Rücksichtnahme entbindet.90

2. Überindividuelle Argumentation

Dieser individuelle Ansatz wird zumindest in der dualistischen Lehre durch das Argument flankiert, die Verteidigung der Rechtsordnung gebiete, Rowdies und Schlägern entschieden gegenüber zu treten.91 In diesem Sinne muß auch eine monistisch-überindividuelle Lehre argumentieren. Schließlich kann die Rechtsordnung hiernach überhaupt nur durch eine entschiedene Verteidigung geschützt werden.92

Konsequenterweise müssen bei diesem Problem sowohl ein indiviueller als auch ein überindividueller Ansatz zum gleichen Ergebnis kommen. Das Gegenteil würde in diesem Fall allerdings auch verwundern, schließlich spricht das Gesetz von "Verteidigung, die erforderlich ist". Flucht wäre aber in keinem Fall ein Verteidigung.93

3. Ergebnis

Das Fehlen einer Ausweichpflicht läßt sich nach allen Ansätzen plausibel begründen.

IV Notwehreinschränkung, gegen Kinder, Schuldlose und schuldlos Irrende

Fall 1: Der verwahrloste 13jährige Schläger S versucht seine Kräfte an dem Volljährigen V zu messen. V klärt die Kraftfrage mit einer schallenden Ohrfeige.

Fall 2: Der erkennbar Geisteskranke G setzt an, ein seiner Meinung nach unzüchtiges Kunstwerk zu vernichten. Er wird durch sehr schmerzhafte Schläge daran gehindert.

Fall 3: Der aufmerksame Passant P hört aus dem abgelegenen Haus des A angstvolles Kindergeschrei. Durch die Ereignisse der letzten Wochen sensibilisiert, versucht er, in das Haus einzudringen. Weil ihm die Tür nicht geöffnet wird, setzt er an, die Terrassentür zu zerschlagen. In diesem Moment wird er von A durch einen Schuß daran gehindert. In Wahrheit hatte P den zu lauten Fernseher des A gehört.

Fall 4: Autofahrer F fährt mit angemessener Geschwindigkeit um eine Kurve. Für ihn nicht einsehbar spielt am Ende Kurve ein Kind auf der Straße. Der Vater des Kindes kann F nur mit einem gezielten Kopfschuß davon abhalten, um die Kurve zu fahren.

1. Erfolgsunwert

Bestimmt man die Rechtswidrigkeit eines Angriffs allein nach dem drohenden Erfolgsunwert94, kann es nicht auf ein Verschulden des Angreifers ankommen. Konsequent weitergedacht muß dann auch schneidige Notwehr gegen schuldlos Handelnde und Irrende möglich sein.95 Seine Begründung findet diese weite Ausdehnung in einem optimalen Schutz des Angegriffenen.96

Hiernach war in allen vier Beispielsfällen schneidige Notwehr möglich.

2. Handlungsunwert

Letztgenannte Sichtweise führt im Ergebnis dazu, daß keine Beziehung zwischen der drohenden Rechtsgutsverletzung und dem Angreifer bestehen muß. Damit gäbe es aber keinerlei Grenze zwischen Notwehr und Notstand.97 Die fehlende Beziehung kann über den Handlungsunwert hergestellt werden.98

a) Objektive Bestimmung des Handlungsunwertes

Notwehr muß danach zumindest dann ausscheiden, wenn sich der "Angreifer" objektiv sorgfaltsgemäß verhält.99

Im Fall 4 muß nach dieser Lösung Notwehr ausscheiden, weil F sich objektiv sorgfaltsgemäß verhalten hat. Für Fall 3 kommt es dagegen darauf an, ob der Irrtum für P objektiv vermeidbar war.100 In den übrigen Fällen liegt objektiv betrachtet ein Verhaltensunwert vor.

b) Einschränkung der Notwehr in den Fällen schuldlosen Handelns

aa) aus überindividueller Sicht

In den übrigbleibenden Fällen schuldlos Handelnder wird zwar ein Notwehrrecht anerkannt, aber sogleich eingeschränkt. Im Ergebnis muß sich der Verteidiger an die Notstandsregeln halten.101 Begründet wird diese Sicht mit dem verminderten Rechtsbewährungsbedürfnis in diesen Fällen.102

bb) aus individueller Sicht

Aus individueller Sicht wird erklärt, in diesen Fällen sei die Handlungsfreiheit des Angegriffenen nicht in dem sonst üblichen Maße betroffen. Die bloße Existenz von Kindern führe bereits zu einer Einschränkung der Handlungsfreiheit103, im Falle eines Kinderangriffs sei die Handlungsfreiheit demnach ebenfalls nicht so stark beeinträchtigt104. Ebenso soll die Bedrängungssituation bei geistig Kranken und Irrenden weniger groß sein.105

Leider wird aber nicht klar, warum denn die Handlungsfreiheit durch einen Wahnsinnigen weniger bedroht wird als von einem sonstigen Angreifer.

In den Fällen 1 bis 3 ist nach dieser Ansicht Notwehr zulässig. Im Fall 1 wird vom Verteidiger zu fordern sein, daß er dem Angriff ausweicht, im Fall 2 dagegen kann die Zerstörung nur durch die Verletzung des Geisteskranken erreicht werden. Im Fall 3 kommt es darauf an, ob A den Angriff des P auch anders - z.B. durch Aufklärung des Irrtums - hätte verhindern können.

c) Subjektive Bestimmung des Handlungsunwerts

Diese Ansichten führen zu dem interessanten Ergebnis, daß zwar ein notwehrfähiger Angriff bejaht wird, dann aber das Notwehrrecht soweit reduziert wird, daß von seiner Schneidigkeit nichts mehr übrig bleibt. Es wird also im folgenden zu untersuchen sein, ob nicht gegen Schuldlosen insgesamt ein Notwehrrecht zu verneinen ist und der Verteidiger auf die Notstandsregeln verwiesen werden muß.

aa) aus überindividueller Sicht

Stellt man bei der Begründung der Notwehr konsequent auf den Schaden für die Geltungskraft der Rechtsordnung ab, müßte man immer dann eine Notwehrbefugnis verneinen, wenn keine Auflehnung gegen die Rechtsordnung vorliegt.106 Im Ergebnis läuft das darauf hinaus, daß ein schuldhafter Angriff gefordert wird, denn nur der schuldhaft Handelnde kann den Eindruck erwecken, die Rechtsordnung gelte nicht mehr uneingeschränkt.

bb) aus individueller Sicht

Zum gleichen Ergebnis gelangt man, wenn man bei der Notwehrbegründung das Verhalten des Täters in den Vordergrund stellt: Ergibt sich die Schneidigkeit des Notwehrrechts gerade daraus, daß es der Täter in der Hand hat, den Angriff jederzeit zu beenden, so muß eine Notwehrbefugnis ausscheiden, wenn der Täter sein Verhalten überhaupt nicht beeinflussen kann.107

cc) Kritik an dieser Ansicht

Gegen die eben vorgetragene Auffassung wird vor allem argumentiert, sie sei mit dem Gesetz nicht zu vereinbaren, weil dort eben nur ein "rechtswidriger" und kein "schuldhafter" Angriff gefordert werde.108

Aus überindividueller Sicht läßt sich außerdem anführen, der Gesetzgeber wolle das Recht gegenüber dem Unrecht behaupten und nicht erst gegenüber der Schuld.109

Nimmt man als Grundlage einer individuellen Notwehrbegründung den Gedanken des Selbstschutzes, so ist ebenfalls nicht verständlich, warum man sich gegen einen Schuldlosen nicht wehren dürfen soll.110

Ein Teil der vorgetragenen Bedenken wird sich aus dem Weg räumen lassen, wenn man berücksichtigt, daß der Angegriffene ja nicht schutzlos dasteht. Ihm bleibt lediglich das schneidige Notwehrrecht verwehrt und er wird auf eine Verteidigung nach Notstandsregeln verwiesen.111

Bliebe das - zugegebenermaßen gewichtige - Wortlautargument. Dies wird allerdings entschärft, wenn man berücksichtigt, daß schon im "Angriff" eine subjektive Komponente steckt.112 Ebenso ist es möglich, "rechtswidrig" in § 32 II im Sinne einer "vorwerfbaren Mißachtung des Rechts" zu verstehen.113

Trotz einer bleibenden Unsicherheit wegen des Wortlautes ist dennoch ein vorwerfbarer Angriff zu fordern. Ansonsten wäre keine vernünftige Abgrenzung zu den Notstandsnormen möglich.

3. Ergebnis

Die Ansätze, die nur auf einen objektiven Handlungsunwert abstellen, verwischen die Grenze Notwehr und Notstand. Es ist nicht plausibel, zwar einen notwehrfähigen Angriff zu bejahen, dann aber eine Notstandsverteidigung zu fordern. Schlüssig läßt sich dagegen aus individueller und überindividueller Sicht das Erfordernis eines schuldhaften Angriffs ableiten.

V. Unerträgliches Mißverhältnis zwischen angegriffenem und verletztem Gut

Fall: Der Rassehund R und der arme A stehlen dem Hühnerfabrikbesitzer H jeweils ein Huhn. H erschießt A aus - vermeintlicher? - Notwehr, läßt R aber leben, weil er einsieht, daß der Hund wertvoller ist als sein Huhn und § 228 BGB hier keine Tötung zulassen wäre.

1. Keine materielle Abwägung

Geht man von einer extrem monistisch-überinidviduellen Sicht der Notwehr aus, dann ist das Interesse der Gesellschaft am Ausbleiben von Rechtsbrüchen zunächst unbegrenzt.114 Für den Geltungsangriff auf die Rechtsordnung spielt dann der materielle Wert des angegriffenen Rechtsgutes keine Rolle.115

Richtig ist an dieser Sichtweise, daß man das Leben eines Menschen nicht in Geld messen kann. Die Bestimmung einer Grenze, ab der die Tötung eines Menschen zulässig wäre, käme der Bestimmung des materiellen Wertes des menschlichen Lebens insgesamt gleich.116 Die Lösung kann dann auch nicht darin bestehen, eine DM-Grenze festzulegen, oberhalb derer das menschliche Leben nicht mehr geschützt ist.117

2. Prinzipielle Zulässigkeit einer Abwägung

a) Minderung des Rechtsbewährungsbedürfnisses

Auch von einer überindividuellen Notwehrkonzeption kommend wird man aber gegen Schmidhäuser erkennen müssen, daß eine Rechtsverfolgung um jeden Preis der Rechtsordnung mehr Schaden zufügt als ihr nützt.118

b) Individuelle Erklärungsversuche

Aus individueller Sicht könnte man auf die Bedrängungssituation des Angegriffenen abstellen, die in Fällen krassen Mißverhältnisses kaum eine Einschränkung der freien Entfaltung bedeuten wird.119

3. Notwehrfremde Erklärung - Rechtsmißbrauchsgedanke

Sowohl der individuelle als auch der überinidviduelle Ansatz lassen sich nicht ohne Bruch in das jeweilige Notwehrkonzept einfügen. Hiernach wäre Notwehr bis zu einer bestimmten Intensität der Rechts- oder Handlungsfreiheitsbedrohung nur unter Berücksichtigung der Proportionalität der betroffenen Güter zulässig, nach Überschreitung dieser Schwelle aber ohne jeden Blick auf diese Güter möglich. Aus dem Notwehrgedanken läßt sich das nicht bruchfrei begründen. Gleichwohl bedarf es einer Korrektur.

Eine Einschränkung könnte über den allgemeinen Gedanken120 des Rechtsmißbrauchs erfolgen.121 Ein Verzicht hierauf würde bedeuten, Notwehr um der Notwehr Willen zuzulassen. Wer einen Menschen niederschießt, um einen Schaden abzuwenden, den er leicht und jederzeit verschmerzen könnte, kann nicht durch Notwehr gerechtfertigt sein, sondern mißbraucht dieses Recht.

Freilich darf der Rechtsmißbrauchsgedanke nicht ausschließlich auf § 226 BGB gestützt werden.122 Verfehlt ist auch eine Kritik, die meint, es werde in § 32 eine Einschränkung hineingelassen, die hierin keine Stütze finde.123 Wenn der Rechtsmißbrauchsgedanke für die gesamte Rechtsordnung gilt, bedarf es keiner speziellen Normierung für jeden Sonderfall.

Dem Rechtsmißbrauchsgedanken verwandt ist das die gesamte Rechtsordnung "durchwaltende Prinzip der Verhältnismäßigkeit".124 Wie unter C gezeigt, läßt sich das Fehlen einer Proportionalitätsprüfung bei der Notwehr allgemein begründen. In Fällen eines unerträglichen Mißverhältnisses kann dies aber nicht mehr gelten. Es würde dem Geist des Grundgesetzes zutiefst widersprechen, die Tötung eines Menschen für Bagatelldelikte zuzulassen.125 Freilich darf hier das Verhältnismäßigkeitsprinzip nicht in dem strengen Sinne des (sonstigen) öffentlichen Rechts verstanden werden, es ist lediglich auf den dahinter stehenden allgemeinen Grundgedanken zu rückzugreifen.126

4. Ergebnis

Eine Notwehreinschränkung in Fällen des krassen Mißverhältnisses kann aus dem Notwehrgedanken nicht abgeleitet werden. Es ist hierbei auf den Gedanken der mißbräuchlichen Rechtsausübung zurückzugreifen. Der Streit, welches Mißverhältnis zwischen den Gütern bestehen muß, ist damit für das Thema dieser Arbeit unergiebig.127

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