Es hat sich gezeigt, daß sich das schneidige Notwehrrecht sowohl individuell als auch überinidviduell schlüssig begründen läßt.
Nicht überzeugt haben dagegen die dualistischen Ansätze. Mehr oder minder beliebig wird das eine oder andere Element in den Vordergrund gerückt. Das Ergebnis hängt dann aber vom Zufall - oder besser dem Willen des Autors - ab. Selbst, wenn das Verhältnis der beiden Ansätze geklärt wäre, müßte noch geprüft werden, in wie weit beide Elemente zur Erklärung herangezogen werden dürfen.
Es bleibt damit bei der Frage, welcher der beiden Ansätze der "richtige" ist. Aufbauend auf ihren jeweiligen Prämissen sind beide bruchfrei zu verfolgen. 128 Prämissen sind aber gewissermaßen Glaubenssache. Es läßt sich folglich nicht sagen, daß einer der Ansätze falsch oder richtig wäre. Eine andere Frage ist allerdings, ob beide Ansichten gleichermaßen mit unserem Staatsverständnis vereinbar sind.129
Im vorgesellschaftlichen Zustand war jeder Mensch sein eigener Richter und Henker. Um dem "Krieg aller gegen alle" zu entgehen, haben die Menschen einen Gesellschaftsvertrag geschlossen. Um im Frieden miteinander zu leben, hat jeder auf private Gewalt verzichtet und diese Macht - aus Vernunft oder Naturnotwendigkeit - auf den Staat übertragen, der ihm dafür Schutz gewährt. Dieses Vertragsverhältnis macht aber nur unter der Voraussetzung Sinn, daß der Staat wirklich Schutz gewährt. Ist er dazu nicht in der Lage, muß der einzelne die Möglichkeit haben, sich gegen einen Angreifer zu wehren, der bewußt gegen die Pflicht zur sozialen Rücksichtnahme verstößt. Das Recht zur Notwehr läßt sich hiernach rein individualistisch begründen.
Ein anderes Staatsverständnis sieht den Staat gewissermaßen als Selbstzweck; das Recht wird zum höchsten Gut. Aufgabe des Staates ist es folglich auch nicht, für die Durchsetzung von Individualinteressen zu sorgen, sondern abstrakt Gerechtigkeit herzustellen. Das Recht zur Notwehr ist hiernach vom Staat abgeleitet und gewährt dem einzelnen, - ausnahmsweise - selber für Recht zu sorgen. Dieses Recht ist aber mehr als irgendein Einzelinteresse, sondern Grundlage des Staates. Der Angreifer darf darum mit aller Gewalt bekämpft werden.
Art. 1 I GG lautet "Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist die Verpflichtung aller staatlichen Gewalt." Dieser Satz ist Programm für unser gesamtes Staatsverständnis. Aufgabe des Staates ist es, dem Individuum Freiheit, Sicherheit und Gerechtigkeit zu gewährleisten.132 Unser Staatsverständnis rückt also das Individuum in den Vordergrund - der Staat ist für den Menschen da und nicht der Mensch für den Staat. Sinn des Notwehrrechts kann es hiernach nicht sein, das Recht um seiner selbst Willen zu verteidigen, sondern muß verstanden werden als ein Recht des einzelnen, sich oder andere gegen einen Angreifer zu verteidigen. Die Schneidigkeit ergibt sich auch nicht daraus, daß der Angreifer den Staat oder das Recht als solches angreift, sondern daraus, daß er sich verantwortlich gegen die Grundwerte des gesellschaftlichen Zusammenlebens stellt und nunmehr nicht erwarten kann, daß man ihm gewährt, was er nicht bereit war, andern zu gewähren.
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