Das schneidige Notwehrrecht hat also in Deutschland eine gewisse Tradition. Gleichwohl bedarf es einer Begründung, warum ein Angreifer vogelfrei wird. Wie ist es zu erklären, daß die Rechtsordnung bereit ist, ein Menschenleben zugunsten von Sachwerten zu opfern, bloß weil der Täter vom Pfad der Tugend abgekommen ist? Schlagworte, wie "das Recht brauche dem Unrecht nicht zu weichen"20 helfen hier zunächst nicht weiter.
Sehr weit verbreitet ist eine Sichtweise, welche die Notwehr über ein individuelles und überindividuelles Moment begründet.21
1. Individuelle KomponenteAls Anhaltspunkt für eine individuelle Komponente werden dabei insbesondere folgenden Argumente angeführt: Nur individuelle Güter seien notwehrfähig22; das Nothilferecht gehe nur soweit, wie sich der Angegriffene verteidigen lassen wolle23; im Falle einer eigenen Abwehrhandlung müsse die Notwehr gerade vom Willen der Angriffsabwehr getragen sein24; gegen strafbaren untauglichen Versuch sei Notwehr unzulässig, weil schließlich keine Individualgüter gefährdet seinen25.
Hierbei handelt es sich aber wohl kaum um Argumente für eine individuelle Notwehrkomponente, sondern mehr um Folgen einer solchen!
Hauptargument für die überindividuelle Seite der Notwehr ist der Gedanke der Stabilisierung der Rechtsordnung26: Indem das Opfer oder der Nothelfer zeigen, daß Angriffe nicht folgenlos möglich sind, leisten sie einen Beitrag zur Stabilisierung der Rechtsordnung. Potentielle Täter werden hierdurch abgeschreckt. Ein wichtige Folgerung aus diesem Gesichtspunkt ist eine Einschränkungsmöglichkeit des Notwehrrechtes, wenn der Rechtsbewährungsgedanke zurücktritt.27
Das Verhältnis der beiden Grundgedanken zueinander wird recht unterschiedlich bewertet. Ein Teil der Autoren scheint von einer Gleichrangigkeit der beiden Aspekte auszugehen28, andere betonen mehr die individuelle29 oder überindividuelle30 Seite, wobei nähere Begründungen fehlen
Ist das Verhältnis der beiden Momente zueinander ungeklärt, kann im Einzelfall praktisch beliebig der eine oder andere Gesichtspunkt in den Vordergrund gerückt werden.31
Solche Abgrenzungsprobleme kennen die monistischen Erklärungsversuche nicht. Entweder wird hierbei einseitig auf die individuelle oder überindividuelle Komponente der Notwehr eingegangen.
Schmidhäuser will ganz auf die individuelle Seite verzichten und das Notwehrrecht rein überindividuell erklären.
Im Notwehrfall kollidieren zunächst einmal die Güter des Angegriffenen und die des Angreifers. Will man zu einer Rechtfertigung gelangen, muß das eine Gut das andere überwiegen. Hier genügt es nun nicht, auf die Verhinderung einer rechtswidrigen Tat zu verweisen. Diese allein kann noch nicht den "Wertanruf" beseitigen, der von dem Leben des Täters ausgeht. Diese Sichtweise ändere sich aber, wenn man berücksichtige, daß der Täter die Geltung der Rechtsordnung als Ganzes angreife.
Zunächst hat Schmidhäuser hier von einem Angriff auf die empirische Geltung der Rechtsordnung gesprochen. Darunter verstand er "die gesellschaftliche Seite der Rechtsordnung, deren Verbote und Gebote im Bewußtsein der Gesellschaft lebendig sind".32
An dieser Sichtweise ist heftige Kritik geübt worden. Die Möglichkeit eines Auseinanderfallens von normativer und empirischer Geltung würde heißen, daß die Rechtsordnung sich selbst negiert.33 Außerdem ist kritisiert worden, daß der soziologische Begriff der "empirischen Geltung der Rechtsordnung" viel zu fließend und ungenau sei, als daß er im Strafrecht eine Berechtigung habe34.
In einer späteren Veröffentlichung35 hat Schmidhäuser dann auch diese Sichtweise aufgegeben und spricht nun von der "Selbstbehauptung" des Rechts. Der Notwehreingriff in die Güter des Angreifers ist gerechtfertigt, weil im Falle eines grob rechtsmißachtenden Angriffs die Selbstbehauptung des Rechts den Vorrang vor den Gütern des Angreifers hat.36
Neben dem Schmidhäuserschen überindividuellen Notwehrkonzept gibt es weitere Versuche, die Notwehr rein überindividuell zu erklären.
Ausgangspunkt ist hier einmal die Überlegung, daß die Rechtsordnung nicht warten darf, bis Rechtsgutsverletzungen eingetreten sind.37 Rechtsordnung in diesem Zusammenhang ist der "rechtlich geordnete Zustand von schutzwürdigen Rechtsgütern"38. Im Moment der Not wird dem einzelnen das Recht gegeben, diesen Zustand zu verteidigen.39 Jede Angriffsabwehr ist damit gleichzeitig eine Verteidigung des Rechtsordnung.40
Hiergegen läßt sich einwenden, es sei "weltfremd", zu glauben, der Angreifer wolle mehr das Recht als seine eigenen Güter verteidigen.41 Dieser Einwand verkennt aber, daß die Ratio, die den Gesetzgeber bewegt hat, den Rechtfertigungsgrund zu schaffen, nicht mit dem Handlungsziel des Abwehrenden identisch sein muß.42
Die besondere Schneidigkeit nach diesem Konzept ergibt sich also daraus, daß der Angreifer nicht bloß irgendein individuelles Rechtsgut gefährdet, sondern die Rechtsordnung selbst durchbricht.43
Ein geringfügig anderer Ansatz rückt mehr die positive Funktion der Notwehr für die Geltungskraft der Rechtsordnung in den Vordergrund. Der Verteidiger verhindert, daß ein Delikt Erfolg hat. Würde er das nicht tun, könnte durch Kommunikation die Gefahr bestehen, daß Unsicherheit darüber entsteht, ob die Rechtsordnung denn noch gilt, oder ob sie durchbrochen werden darf.44 Indem sich der Täter durch seine Handlung gegen die Rechtsordnung stellt und den allgemeinen Erwartungen nicht gerecht wird, darf er nicht mehr auf die Solidarität der Gemeinschaft hoffen dürfen.45
Ansatzpunkt für eine individuelle Notwehrgründung ist zunächst der Gedanke, daß die Rechtsordnung dem einzelnen Opfer nicht verbieten kann, sich gegen das Unrecht des Angreifers zu verteidigen.46
aa) Ungeübtheit in der Abwehr von AngriffenDas Fehler einer Güterabwägung läßt sich durch die Ungeübtheit des Opfers in der Abwehr von Angriffen erklären.47 Es würde den Angegriffenen überfordern, würde man von ihm verlangen, die betroffenen Güter gegeneinander abzuwägen, bevor er zur Verteidigung schreitet.48
Problematisch wird diese Sichtweise allerdings, wenn man an den Fall denkt, daß dem Täter ein in der Verteidigung geschultes Opfer gegenübersteht.49 Stell man außerdem einseitig auf die emotionale Situation des Opfers ab, so ist es nicht zu erklären, warum nur Notwehr gegen den Täter und nicht gegen Dritte möglich sein soll.50 Hiergegen kann auch nicht eingewendet werden, es stehe dem Gesetzgeber frei, der Rechtfertigungsnorm den Regelfall zugrunde zu legen.51 Es ist vielmehr nach einem besseren Erklärungsansatz zur Begründung des schneidigen Notwehrrechts zu suchen.
Als weiteres Argument wird angeführt, der Täter bedrohe nicht nur das direkt betroffene Gut - z.B. den Besitz oder das Eigentum - sondern auch immer die individuelle Handlungsfreiheit des Opfers. Dieses Recht zur freien Entfaltung der Persönlichkeit stellt aber eines der höchsten Güter unserer Gesellschaft dar.52
Hiergegen läßt sich aber anführen, daß die Handlungsfreiheit auch bei Bedrängungssituationen, die keine Notwehr zulassen - z.B. bei Tierangriffen - ebenso bedroht sein kann.53
Ein anderer Erklärungsansatz stellt nun weniger das Opfer in den Vordergrund, sondern versucht, über die Handlung des Täters zu erklären, warum dieser weniger schutzwürdig ist.
In diesem Zusammenhang wird ausgeführt, daß die Menschen einander zur Einhaltung bestimmter Verbote verpflichtet sind. Übertritt der Täter diese Verbote, ist auch das Opfer nicht mehr zur Einhaltung derselben verpflichtet.54
Dieser Ansatz berücksichtigt aber nicht, daß im modernen Staat der einzelne gerade nicht aufgerufen sein kann, Verbotsüberschreitungen anderer selbständig zu bekämpfen.55
Außerdem wird nicht bedacht, daß die §§ 34 StGB und 228 BGB ebenfalls Fälle erfassen, in denen eine Person gegen den "Gesellschaftsvertrag" verstoßen hat.56
Eine weitere Möglichkeit zur individuellen Begründung der Notwehr ist der Umstand, daß der Täter sich selbst in die Lage gebracht hat, die nun zur Notwehr führt.57
Nun sind aber auch Fälle denkbar, in denen der Betroffene sich selbst in eine Lage gebracht hat, in der ein anderer zu Notstandshandlungen berechtigt ist. Hier hätte dann jedoch prinzipiell eine Güterabwägung stattzufinden. Die Besonderheit bei der Notwehrlage ist, daß der Täter zu jedem Zeitpunkt der Handlung in der Lage ist, den Angriff zu stoppen und damit eine Beeinträchtigung seiner Güter zu verhindern.58
Aus diesem Blickwinkel kann man nun wieder auf den oben angeklungenen Vertragsgedanken zurückkommen: Der Angreifer hat vorwerfbar seine Verpflichtung zur Einhaltung der Rechtsordnung mißachtet. Damit wird gleichzeitig das Angriffsopfer von seinen "Vertragspflichten" entbunden und darf sich zur Wehr setzen.59
Untermauert wird dieser Ansatz noch, wenn man die Notwehr mit den Notstandsregeln vergleicht. § 32 fordert einen "gegenwärtigen Angriff", § 34 dagegen eine "nicht anders abwendbare Gefahr", § 228 BGB eine "drohende Gefahr" und § 904 BGB eine "gegenwärtige Gefahr". Die Notstandsnormen verlangen also allesamt eine Gefahr. Gefahr ist dabei als Zustand zu verstehen, der die Möglichkeit des Eintritts einer Verletzung nahe legt.60 Die Feststellung einer Gefahrenlage erfordert also eine Zukunftsprognose mit dementsprechendem Irrtumsrisiko.61
Ein weit verbreitetes Verständnis definiert den Angriff sehr ähnlich als "drohende Verletzung rechtlich geschützter Interessen"62.
Eine zeitliche Eingrenzung wird erst über das Merkmal der Gegenwärtigkeit vorgenommen.63
Diese Auslegung des Begriffs "Angriff" sprengt jedoch die Grenze des Wortlautes. Droht eine Tätlichkeit lediglich, so liegt kein Angriff vor, dem es lediglich an der Gegenwärtigkeit fehlt, sondern überhaupt keiner.64 Ein Angriff setzt also eine aktuelle Zuspitzung der Gefahr voraus.65 Das Merkmal der "Gegenwärtigkeit" verliert damit von seiner eigenständigen Bedeutung.66 Versteht man "Angriff" solchermaßen eng, so bedeutet das für die Notwehr, daß der Angreifer seine Gefährlichkeit und Entschlossenheit aktuell verdeutlicht hat und nun ein Höchstmaß an deliktischer Energie an den Tag legt. Gleichzeitig hat sich das Irrtumsrisiko beim Verteidiger minimiert.67
Hiermit wäre ein plausibles Unterscheidungsmerkmal zwischen Notwehr und Notstand gefunden: Vom Angreifer geht nicht nur eine potentielle Gefahr aus, sondern er hat gezeigt, daß er entschlossen ist, sein Ziel unmittelbar zu verwirklichen, gleichzeitig ist beim Verteidiger das Irrtumsrisiko minimiert.
Eine individuelle Notwehrbegründung braucht als Fundament den Selbstschutzgedanken des einzelnen in Momenten der Not. Die Schneidigkeit der erlaubten Verteidigungshandlung ergibt sich aus der fehlenden Schutzwürdigkeit des Angreifers, der bewußt gegen seine "Vertragspflichten" verstoßen hat und im Moment des Angriffs ein Höchstmaß an deliktischer Energie zeigt.
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