C) Strafbarkeitslücken

I. Aufzeigen der Lücken

Zieht man strafrechtlich, wie oben dargestellt, die Grenze zum Menschsein beim Beginn der Geburt und hält man den Einwirkungszeitpunkt in Bezug auf die Objektsqualität für maßgeblich, so führt das zu den folgenden Strafbarkeitslücken:
1. die Fälle der fahrlässigen Abtötung der Leibesfrucht und
2. der fahrlässigen sowie der vorsätzlichen Verletzung der Leibesfruchtwerden strafrechtlich nicht sanktioniert.
Straflos sind also auch sämtliche fahrlässig herbeigeführten Schäden, die z. B. während einer Untersuchung oder Operation des Ungeborenen im Mutterleib entstehen. Das gleiche gilt für alle geburtshilflichen Maßnahmen, deren Wirkung vor den Eröffnungswehen eintritt. Auch wenn der Schwangeren fahrlässig Medikamente verschrieben worden sind, die zu einer Schädigung oder zum Tod des Embryos bzw. des Fetus geführt haben, bleibt dies für den Täter folgenlos.

Dieser straffreie Raum existiert natürlich nicht nur bei der medizinischen Versorgung der werdenden Mutter: Auch wer vorsätzlich einen heftigen Faustschlag gegen den Bauch der Frau richtet, der zu schweren Schäden an der Leibesfrucht führt, begeht zwar eine Körperverletzung an der Mutter, braucht aber in Bezug auf die Schädigung der Frucht mit keinen Sanktionen zu rechnen.

II. Kompensation durch Bestrafung als Körperverletzung an der Schwangeren

1. Körperverletzung der Mutter durch die Schädigung der Frucht

Dennoch ist ein umfassender Schutz der Leibesfrucht vor fahrlässiger Verletzung oder Abtötung anzunehmen, wenn durch entsprechende - bisher straflose - Angriffe in jedem Fall eine - strafbare - Körperverletzung an der Mutter begangen wird. Das ist aber nur denkbar, soweit man die Leibesfrucht als Teil der Mutter ansieht.84

Natürlich ist bei einer Einwirkung auf die Leibesfrucht gegen den Willen der Schwangeren eine Trennung zwischen dem Schutz ihrer eigenen Körperintegrität und der ihres ungeborenen Kindes in der Regel nur schwer möglich.85 Man könnte deshalb zu dem Schluß kommen, der strafrechtliche Integritätsschutz der werdenden Mutter umfasse - als Bestandteil ihres Körpers - immer auch das werdende Leben in ihrem Bauch.86

Gegen diesen Standpunkt sprechen aber sowohl medizinische als auch rechtliche Aspekte: Aus medizinischer Sicht ist anzumerken, daß die Leibesfrucht zwar vom Organismus der Mutter abhängig ist, doch einen von diesem völlig verschiedenen selbständigen Organismus darstellt.87 Bereits in einem sehr frühen Stadium der Schwangerschaft sind die wichtigsten Organe in ihren Urformen beim Embryo angelegt, und die Leibesfrucht hat bald einen eigenen Blutkreislauf mit eigenem Stoffwechsel. Ihre Selbständigkeit geht sogar so weit, daß die Frucht beim Tod der Mutter - zumindest vorübergehend - weiterleben kann.88

Aber auch rechtliche Grundsätze schließen eine Gleichsetzung von Schädigungen der Leibesfrucht mit solchen der Schwangeren aus: Die "Leibesfrucht " und der mütterliche "Mensch" sind rechtlich als zwei zu unterscheidende Rechtssubjekte gesondert geschützt.89 Dies ergibt sich insbesondere aus der Schaffung des § 218, der dem Rechtsgut "werdendes Leben" selbständigen Schutz - auch gegenüber der Schwangeren - gewährt.90 Würde man hier nicht differenzieren, wäre der Wille des Gesetzes, die Leibesfruchtverletzung im Gegensatz zur Körperverletzung straflos zu lassen, wegen der Identifikation von Leibesfrucht- und Mutterleibsverletzung bei Handlungen Dritter nicht mehr realisierbar.91 Auch müßte man die Abtreibung durch die Schwangere konsequenterweise als straflose Selbstverletzung ansehen, so daß eine Strafbarkeit nach § 218 umgangen würde.92

Abschließend ist also festzuhalten, daß eine Umdeutung einer Leibesfruchtverletzung in eine Körperverletzung an der Schwangeren abzulehnen ist.93

2. Körperverletzung der Mutter als Nebeneffekt der Fruchtschädigung

Es fragt sich dennoch, in welchen Fällen durch einen Angriff auf das Rechtsgut "werdendes Leben" gleichzeitig ein Angriff auf das Rechtsgut "Körperintegrität" der Mutter in Betracht kommt. Denn käme man zu dem Ergebnis, daß in der Realität kein Fall denkbar ist, in dem nicht auch gleichzeitig mit einem Angriff auf die Leibesfrucht eine Körperverletzung an der Mutter verbunden ist, so käme einer Schließung der oben aufgezeigten Strafbarkeitslücken nur beschränkt praktische Bedeutung zu. Denn mittelbar wäre das Ungeborene dann weitgehend gegen das schädigende Verhalten Dritter, wenn auch durch den Umweg über § 223, geschützt. Nicht erfaßt wären lediglich Schädigungen durch die Mutter, die an sich selbst nicht den Tatbestand des § 223 erfüllen kann.

Eine Körperverletzung bilden natürlich alle Angriffe, die sich primär gegen den Körper der Schwangeren richten, wie z. B. das Mißhandeln - im umgangssprachlichen Sinn - einer werdenden Mutter, das gleichzeitig zu einer Schädigung bzw. zum Tod der Leibesfrucht führt.

Anders sind aber eventuell die Fälle zu beurteilen, in denen die Schwangere mit Mitteln versorgt wird, deren Einnahme zu Schädigungen der Leibesfrucht führt, auf den Körper der Frau aber keine schädigenden Einfluß hat. Zwar wäre es denkbar, auch hier eine vorsätzliche oder fahrlässige Störung von Körperfunktionen - und damit eine Körperverletzung - gegenüber der Mutter anzunehmen: nämlich ihrer Fähigkeit zur ungestörten Entwicklung der Leibesfrucht.94

Dagegen läßt sich aber einwenden, daß aus gynäkologischer Sicht die Funktion einer Schwangeren, lediglich darin besteht, der Frucht über die innere Wand der Gebärmutter das mütterliche Blut mit allen seinen Bestandteilen zur Vornahme des Stoffwechsels anzubieten. Die Verwertung des angebotenen Blutes und der darin enthaltenen Substanzen nimmt die Frucht alsdann selbst vor. Das Anbieten des Blutes durch die Mutter wird aber noch nicht allein dadurch gestört, daß in ihrem Blut Stoffe enthalten sind, die zu einer Schädigung des Embryos bzw. des Fetus führen.95 Auch ansonsten bilden, wie oben erwähnt, Mutterleib und Leibesfrucht zwei unterschiedliche biologische Systeme, so daß die Schädigung der Frucht nicht als Symptom am mütterlichen Organismus gesehen werden kann.96

In diesen Situationen wird man also nicht ohne weiteres von einer Körperverletzung der Mutter ausgehen können.

Gleiches gilt, wenn z. B. wehenhemmende Medikamente kurz vor Einsetzen der Geburt verabreicht werden und das Kind wegen Sauerstoffmangels tot oder mit schweren geistigen Schäden zur Welt kommt. Allein in der zeitlichen Verschiebung es Geburtsvorgangs ist noch keine tatbestandsmäßige Körperverletzung zu sehen.97 Denn die bei einem komplikationslosen Geburtsvorgang auftretenden Schmerzen und Blutungen stellen einen normalen biologischen Vorgang und keine Integritätsverletzung iSd. §§ 223 ff dar.98

Abschließend ist also festzustellen, daß schädigende Einwirkungen auf die Leibesfrucht durchaus nicht immer mit einer Körperverletzung der Mutter zusammenfallen und es, abgesehen vom Handeln durch die Mutters selbst, eine ganze Anzahl weiterer Fälle gibt, in denen das Täterhandeln völlig sanktionslos bleibt.


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84 LG Aachen, JZ 1971, 507 (508).
85 BGHSt 10, 312 (314); Arzt, FamRZ 1983, 1019 (1020).
86 RGSt 41, 328 (330); OGHBrZ NJW 1950, 195 f.; Welzel, BT, § 41, S. 302.
87 LG Aachen, JZ 1971, 507 (508); Lütter, JR 1971, 133 (141).
88 LG Aachen, JZ 1971, 507 (508); Lütter, JR 1971, 133 (141).
89 RGSt 59, 98 (99); 67, 206 (207); BGHSt 11 15 (16); LG Aachen, JZ 1971, 507 (508); Lüttger, JR 1971, 133 (141); Schwalm, MDR 1968, 277 (278).
90 LG Aachen, JZ 1971, 507 (508); Lüttger, JR 1971, 133 (141); Schwalm, MDR 1968, 277 (278).
91 Lüttger, JR 1971, 133 (141).
92 Lüttger, JR 1971, 133 (141).
93 so auch: LG Aachen, JZ 1971, 507 (508); Kaufmann, JZ 71, 569; Lüttger, JR 1971, 133 (141).
94 Schwalm, MDR 1968, 277 (279).
95 LG Aachen, JZ 1971, 507 (509).
96 Lüttger, JR 1971, 133 (141); Kaufmann, JZ 1971, 569.
97 BGHSt 31, 348 (357).
98 Hirsch, JR 1985, 336 (339).