Kriminologische Theorien zur Verbrechensentstehung
Körperliche Konstitution
- Lombroso: These vom geborenen Verbrecher
- Der Verbrecher befindet sich auf einer anthropologisch niederen Stufe der
Menschheit. Er stellt einen Rückfall in frühe menschliche Entwicklungsstadien
dar. 35% der nach anatomischen Kriterien untersuchten Gefängnisinsassen
verkörperten diesen Menschentypen.
- Als "Kriminaltherapie" schlug Lombroso die lebenslage Internierung oder
Beseitigung vor. Bei Jugendlichen sollte versucht werden, die schädlichen
Anlagen sinnvoll zu nutzen: Mordlustige zum Militär, geschlechtlich allzu
erregbare Frauen zu Prosituierten.
- Vererbung: Es gibt erbliche physische und psychische Bedingungen,
die die Neigung zu strafbaren Handlungen erhöhen
- Zwillings- und Adoptionsstudien
- bei Zwillingen: Ausgangsthese, daß eineiige Zwillinge in stärkerem
Maße identische kriminelle Lebensläufe aufweisen, konnte bestätigt werden.
- Problematisch ist hierbei jedoch, daß Zwillinge in der Regel
identisch erzogen werden und sich alleine aus der Zwillingseigenschaft
eine besondere Erziehung ergibt
- Adoptionsstudien: Kriminalität korreliert stärker mit dem
biologischen Status des Vaters aber auch mit dem sozioökonomischen Status des
Adoptivvaters.
- Methodologische Kritik: Viele der untersuchten Jugendlichen hatten
zuvor Heimaufenthalte hinter sich.
- Adoptiveltern neigen eher zu einem nachgiebigen - schädlichen -
Erziehungsstil.
- bestimmte genetische und hormonelle Störungen führen zu Auffälligkeiten,
die sich auch in Kriminalität äußern können -> trotzdem kein zwingender
Zusammenhang feststellbar
Psychoanalytische Ansätze
- Freud: Psychoanalyse erfaßt Täter als Individuum und Psychologie
der strafenden Gesellschaft als kollektiver psychischer Mechanismus
- der Mensch ist von Natur aus asozial und in seinem Treiben hemmungslos;
durch Erziehung (äußere Zwänge) wir eine innere Kontrolle aufgebaut und die
Triebe / Wünsche werden ins Unterbewußtsein verdrängt
- ES (Sitz der elementaren Triebe, gehört zur Grundausstattung);
ÜBER-ICH (Moral-, Wert- und Normvorstellungen, muß durch Sozialisation
ausgebildet werden; ICH (Gedächtnis, Wahrnehmung, Denken, etc.
Steuerung des ES mit Hilfe des ÜBER-ICHs)
- durch fehlerhafte Erziehung kann es zu Störungen in der
Persönlichkeitsentwicklung kommen, die zu Kriminalität führen können;
Kriminalität "entsteht" also in der Kinderheit
- Aichhorn: Soziales Verhalten setzt ein starkes ÜBER-ICH voraus.
Durch schwankende Erziehung, Ablehnung durch die Eltern oder
Beziehungsstörungen zwischen den Eltern wird Ausbildung des ÜBER-ICHs
behindert.
- die Gesellschaft kann eigene Schwächen und Triebe auf den Täter als
Sündenbock projizieren
Lerntheorien
- Straffälligkeit wird gelernt wie anderes Verhalten auch
- Eyseck: Straffälligkeit ist Ergebnis mißlungener Konditionierung,
wobei Extrovertierte schlechter konditionierbar sind als Introvertierte
- Beobachtungs- und Modellernen: Verhaltensmuster werden übernommen
- Konditionierung kann auch durch Strafandrohung erfolgen
- operante Konditionierung: Lernen durch Erfolg
- Sutherland: Theorie der differentiellen Kontakte: Lernen
vollzieht sich in erster Linie in Gruppen (-> Subkulturtheorien) und ist
orientiert an den dort geltenden Normen
- nicht alle Kontakte sind gleich wichtig für das Lernen; besonderes
Gewicht haben die Personen, mit denen man sich am stärksten identifiziert
(Verstärkung -> Konditionierung)
- Experimentelle Bestätigung: Kinder konnten beobachten, wie Erwachsene
mit einem Gummihammer auf eine Clownpuppe einschlugen. Selber mit der Puppe
allein gelessen, taten sie das selbe. Besonders aggressive gingen die Kinder
mit der Puppe um, wenn sie von den Erwachsenen für ihr Verhalten, belohnt
wurden. Kinder, die ohne entsprechende Vorbilder mit der Puppe allein
gelassen wurden, spielten friedlich mit ih.
- Kritik:
- zu einfaches Menschenmodell
- Affekt- und Triebtaten werden überhaupt nicht erfaßt
- warum kommt es überhaupt zur Bildung von Gruppen?
- praktische Bedeutung:
- Verhaltenstherapie geht davon aus, daß auch richtiges Verhalten erlernbar ist
- Trennung von Jugendlichen und Erwachsenen im Strafvollzug um Lernen zu
verhindern
Halt- und Bindungstheorien
- Erklärungsbedürftig ist nicht das abweichende sondern das konforme Verhalten
- Hirschi:
- attachment to meanigful persons
- commitment to converional goals
- involvement in conventional activities
- belief in social rules
Theorie des Kulturkonfliktes
- Konflikt zwischen zwei Kulturen
- die eine Kultur gebietet ein Verhalten, die andere verbietet es (z.B. Blutrache)
- mittelbarer Kulturkonflikt
- Benachteiligung von Fremden führt bei diesen zu Problemen bei der
Persönlichkeitsbildung
Subkulturtheorie
- am Rande von Großstädten gibt es gangland, in denen andere Normen herrschen
und durch sozale Kontrolle aufrecht erhalten werden
- Cohen: spiegelbildliche Negation von Mittelstandsstandards
- sinnloser Vandalismus, Diebstahl gegen die reichen und feinen Leute
- peer-group bietet Vaterersatz; hohes Maß an Solidarität und Konformität
- Kritik:
- ist nur auf (amerikanische) Großstädte zugeschnitten
- Straßenbanden fehlen in vielen Ländern, die dennoch hohe Jugendkriminalität
haben
- bleibt offen, ob Gangs Ursache oder Ergebnis für / von Kriminalität ist
Anomietheorie (Mertons)
- es herrscht Einigkeit über die erstrebenswerte Ziele: Wohlstand, Status,
Erfolg und die legitimen Mittel: Intelligenz, Leistungsbereitschaft
- die kulturellen Ziele werden von allen geteilt, die legitimen Mittel
stehen aber nicht allen offen
- bei den Mitgliedern der Unterschicht entsteht deshalb ein anomischer Druck
- Zu Kriminalität kommt es also erst, wenn die Gesellschaft nicht mehr in der
Lage ist, die individuelle Bedürfnisbefriedigung zu kontrollieren. Kriminalität
ist ein Symptom für das Auseinanderklaffen von kulturell vorgegebenen Zielen
und sozial strukturierten Wegen, auf denen diese Ziele zu erreichen sind.
- Kritik:
- ist gesellschaftsbezogen, erklärt nicht das Individuum
- ist auf Eigentums- und Vermögensdelikte zugeschnitten; erklärt vor allem
nicht die "white collor"-Kriminalität
- empirisch hätte die Kriminalität bei Einwanderern (keine legitimen Mittel)
am höchsten sein müssen, was sie nicht war
Theorie der differntiellen Gelegenheit
- Weiterentwicklung der Anomietheorie
- Ansatz: Auch der Zugang zu illegitimen Mitteln kann versperrt sein
- innerhalb der Unterschicht gibt es Gruppen
- conflict subculture (Einwanderer, die sowohl von den legitimen, als auch
den illegitimen Mitteln abgeschnitten sind -> Gewaltdelikte)
- retrealist subculture (echte outsider -> Drogendelikte)
- criminal subculture (erfolgreiche Kriminelle mit Zugang zu kriminellen
Lernmilius und Informationen über günstige Gelegenheiten, auch mit Kontakten
zu legalen Bereichen)
Etikettierungsansätze; Theorie vom labeling apprach
- "Wir verurteilen die Tat nicht weil sie ein Verbrechen ist, sondern
sie ist ein Verbrechen, weil wir sie verurteilen."
- die Normen, die ein Verhalten als kriminell einstufen führen kein
Eigenleben, sondern existieren nur in der konkreten Interaktion von Menschen
- bei Konflikten kommt es auf die Definitionsmacht der Beteiligten an,
ein Verhalten als abweichend zu kennzeichnen -> These von der sozial selektiven
Sanktionierung
- die Identität eines Menschen entsteht durch Zuschreibungs-, Definitions-
und Etikettierungsvorgänge in sozialer Interaktion
- Zuschreibungen (Dieb, Rumtreiber) bleiben nicht ohne Einfluß auf das
Selbstbild des Betroffenen
- die Gesellschaft schafft mit ihren Zuschreibungen erst die Voraussetzungen
für kriminelle Karrieren
- Bsp: nicht ehelich geboren
- ätiologische Sicht: Fehlen des Vaters verhindert Über-Ich-Bildung;
Berufstätigkeit der Mutter führt zu gefährlichen Kontakten; fehlende
elterliche Kontrolle wirkt sich negativ auf Beruf aus -> Kriminalität
- labeling: Nichtehelichkeit steht für den Beginn einer erhöhten
sozialen Kontrolle
- Kritik:
- Wenn Kriminalität das Ergebnis von Zuschreibung ist, dürfte es kein
Dunkelfeld geben.
- Der Labeling-Ansatz übersieht, daß es sich bei dem "abweichenden
Verhalten", das der Stigmatisierung vorausgehet, häufig um Normbrüche
handelt, über deren Einschätzung als "kriminell" Einigkeit
in der Gesellschaft besteht.
Mehrfaktorenansätze
Unravaling Juvenile Delinquency (S. und E. Glueck) 1950
- Untersuchung von 500 delinquenten und 500 unauffälligen Jugendlichen
zwischen 11 und 17 (Durchschnitt 14,5) Jahren, Nachuntersuchung nach 15
und 31 Jahren
- Erhoben wurden Daten aus dem soziokulturellen Bereich, körperlichen
Bereich, Intelligenz, psychischen Bereich
- bestimmte Variablen korrelierten besonders stark mit Straffälligkeit
- die Addition bestimmter Faktoren soll besonders hohe Korrelation aufzeigen
- die meisten Faktoren sind rein äußerlich (Erziehung durch den Vater,
Zusammenhalt der Familie)
- führte zur Erstellung von Prognosetafeln mit 90%iger Genauigkeit
- bei 500 Delinquenten und 500 Nichtdelinquenten, werden 900 richtig
zugordnet -> Verhältnis 9 : 1
- bei einem Verhältnis D : ND von 5 : 100
(was eher der Realität entspricht),
werden von 1000 Jugendlichen von den 50 Delinquenten 45 richtig erkannte,
bei den 950 Nichtdeliquenten werden 10% = 95 falsch zugeordnet
-> Verhältnis 1 : 2
Die Cambridge Study in Delinquent Development (D. J. West) 1970
Kohortenstudie
- 411 Jugendliche im Alter von 8 bis 9 Jahren werden bis zum 24 Lebensjahr
beobachtet
- im Gegensatz zu den Gluecks nicht retrospektiv
- keine Stigmatisierung
- 5 Schlüsselfaktoren mit besonderer Vorhersagekraft: niedriges
Familieneinkommen, große Familie, mangelhafte Erziehung, niedrige
Intelligenz, straffälliges Elternteil
- mehr als 3 Schlüsselfaktoren führen mit 50%iger Wahrscheinlichkeit
zu Straffälligkeit
- Probleme
- statistische wie bei den Gluecks
- wenig aussagekräftige Merkmale
Kriminalität und Massenmedien
- Katharsishypothese:
- Das Ansehen von Gewalt führt bei den Zuschauern zu einem
Aggressionsabbau.
- Das Betrachten von Gewaltszenen führt zu Gewaltphantasien, die
aus Angst vor innerer und äußerer Vergeltung nicht realisiert werden.
Das Anschauen hat hierbei die Funktion einer Ersatzbefriedigung.
- Inhibitationsthese:
- Im Ansatz wie die Katharsishypothese.
- Das Ansehen von Gewalt führt jedoch nicht zu einer
Aggressionsabfuhr, sondern ruft Schuldgefühle und Furcht vor Vergelung
hervor, es kommt deshalb zu einer Aggressionsunterdrückung.
- Stimulationsthese
- Das Ansehen von Gewalt führt zum Erlernen gewalttätiger
Verhaltensmuster. Die Theorie basiert dabei auf den allgemeinen
Lerntheorien.
- Habitualisierungsthese
- Wie die Stimulationsthese; der Schwerpunkt liegt jedoch nicht
beim Erlernen, sondern beim Gewöhnen an Gewalt.
- Der Konsum von Gewalt führt zu einer Abnahme an Sensibilität
gegenüber Gewalt.
- Anomietheorie
- Die Massenmedien geben die gesellschaftlichen Ziele vor.
Zugleich zeigen sie, wie man diese Ziele mit gesellschaftlich
nicht gebilligten Mitteln erreichen kann.
- Gewaltdarstellungen fungieren als verfehlte Konfliktlösungsmodelle
zum Abbau des anomischen Drucks.
Wohnumfeld und Kriminalität
- Ansatz ist weniger das Individuum oder die "große"
Gesellschaft als vielmehr das Wohnumfeld. Von besonderem Interesse ist
hierbei, wie es dazu kommt, daß ein Wohngebiet von gering zu hoch
kriminell belastet umschlägt.
- "broken-windows"-Hypothese
- Das äußere Umfeld - zerbrochene Fenster, Graffiti etc. - führen dazu,
daß sich die "Rechtschaffenden" zurückziehen und die Straße
immer mehr kriminellen Personen überlassen. Hierdurch entsteht
letztendlich ein Teufelskreis: Die, die es sich leisten können ziehen
weg, kriminell auffällige Personen ziehen zu - ein Viertel kippt um.
- Um diesem Teufelskreis Herr zu werden, greifen
"Zero-tolerance" Konzepte schon bei ersten Anzeichen
von "Unordnung" hart durch.
Viktimologie
- Wissenschaft vom Verbrechensopfer
- Fragestellungen:
- Warum kam es zur Tat?
- Was hat sich während der Tat zwischen Täter und Opfer abgespiel?
- Wie wird die Tat vom Opfer sowie durch Polizei und Justiz verarbeitet?
- Täter-Opfer-Beziehung
- Viele Delikte finden im sozialen Nahfeld statt (bei vorsätzlichen
Tötungsdelikten etwa 80-90%).
- Es gibt eine "Opferanfälligkeit". Viele Opfer sind
vor der eigentlichen Viktimisierung bereits psychisch oder physich
geschädigt. Hierdurch ist ihre Vereidigungsfähigkeit geschwächt.
(Z.B. illegale Prostituierte, Kinder, Alte).
- Die Viktimisierung
- Rechtfertigungstechniken des Täters
- Das Opfer wird als wertlos definiert ("Ausländer").
- Das Opfer wird entpersonalisiert.
- Der Opferschaden wird verneint ("zahlt die Versicherung").
- Geschlechterspezifische Situationsverkennung
- Für den Bereich der Sexualstraftaten wird teilweise eine
geschlechterspezifsche Situationsverkennung angenommen. Der Täter
deutet hierbei bestimmte Signale falsch (das Tragen kurzer Röcke,
als sexuelle Bereitschaft).
- Hierbei dürfte es sich letztlich wohl eher um den Versuch handeln
"wissenschaftlich" zu belegen, was Mann schon immer dachte.
- Forensiche Erfahrungen mit Vergewaltigungsfällen belegen, daß die
Täter die Ablehnung der Frau als eindeutig erfahren haben.
- Opferverhalten
- Das Opfer kann den Rechtfertigungsmechanismen entgegenwirken.
Besonders bei Geiselnahmen und Entführungen hat sich gezeigt, daß
Opfer, denen es gelingt eine persönliche Beziehung zu Tätern aufzubauen
einem weniger großem Risiko ausgesetzt sind.
- "Live-style"-Verhalten: Das Opfer verzichtet mehr oder minder
bewußt auf Schutzmaßnahmen, um einen bestimmten Lebensstil führen zu können.
(z.B. nächtliches Trampen junger Mädchen). Hier gilt es jedoch
festzustellen, daß dies in aller Regel den Täter nicht entlasten kann.
- Primärviktimisierung
- unmittelbar physische und psychische Folgen der Tat
- Opfer von Gewaltverbrechen können die Viktimisierung oft ein Leben
lang nicht verarbeiten und haben auch lange Zeit nach der Tat noch
Angstzustände.
- Nicht unterschätzt werden darf auch die Viktimisierung durch
Einbruchsdiebstähle. Grund hierfür ist der "Einbruch" in die
Privatsphäre und der Verlust an subjektivem Sicherheitsempfinden
in den eigenen "vier Wänden".
- Sekundärviktimisierung
- Viktimisierung durch die Reaktion Dritter - vor allem Polizei
und Justiz - auf die Tat
- Besonders im Bereich der Sexualdelikte empfinden es die Opfer
als erniedrigend noch einmal im Detail über die Tat berichtetn zu
müssen. Weil viele Opfer diesen Mechanismus fürchten, kommen viele
Taten erst gar nicht zur Anzeige. Bei Vergewaltigungen wird ein
Dunkelfeld von 1:5 bis 1:10 angenommen.
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