Im Grenzbereich zwischen Schwangerschaft und Geburt kommt eine Sanktionierung strafrechtlichen Verhaltens einerseits nach § 218 und andererseits nach §§ 211ff, 223 ff in Frage. Wann im einzelnen welche Normen eingreifen, zu welchen Ergebnissen dies führt und ob diese zufriedenstellend sind oder ob die momentane Situation verbesserungswürdig erscheint, wird im folgenden zu klären sein.
Interessant ist insbesondere die Frage, inwieweit das Neugeborene im Vergleich zum Fetus wenige Tage vor der Geburt oder dem aus einer Zellansammlung bestehenden Embryo in den frühen Tagen der Schwangerschaft strafrechtlichen Schutz genießt.
Geschütztes Rechtsgut der Tötungsdelikte ist das menschliche Leben; Tatobjekt ist der geborene Mensch.2 Vom Beginn der Geburt an ist das menschliche Leben, soweit es in diesem Augenblick tatsächlich vorhanden war, in jeder Phase geschützt. Auf die weitere Lebensfähigkeit kommt es nicht an.3 Auch die lebend zur Welt gebrachte unreife Leibesfrucht und die Mißgeburt stehen unter dem Schutz der Tötungsdelikte.4 Lediglich krankhaft entartete Eier, sog. Molen, sind vom Schutzbereich der §§ 211 ff ausgenommen.5 Selbst wenn in einem sehr frühen Schwangerschaftsstadium ein lebensunfähiges aber lebend geborenes Kind durch eine Abtreibungshandlung zur Welt kommt und dieses durch einen erneuten Angriff getötet wird, liegt strafrechtlich eine Tötung iSd. §§ 211 ff vor.6
Aus der Systematik des Gesetzes ergibt sich, daß in §§ 223 ff mit einem "anderen" ein Mensch gemeint ist, so daß lediglich der Mensch - im strafrechtlichen Sinne - in seiner Körperintegrität geschützt ist.7
Das Grundgesetz erfaßt durch Art. 2 II 1, Art. 1 I GG auch das sich im Mutterleib entwickelnde menschliche Leben als selbständiges Rechtsgut.8 Denn "Leben" im Sinne der geschichtlichen Existenz eines menschlichen Individuums beginnt bereits kurze Zeit nach der Empfängnis, und "jeder" iSd. Art. 2 II GG ist "jeder Lebende".9 Aber auch wenn man bei einer restriktiveren Wortlautauslegung des Art. 2 II GG unter "jeder" nur den geborenen Menschen verstehen wollte, so erfordern es Sinn und Zweck des Lebensschutzes, auch das werdende Leben vor Eingriffen zu bewahren.10 Denn jeder Mensch macht diese Entwicklungsstufe durch. Ein wirksamer Schutz des geborenen Menschen ist also ohne einen Schutz des Ungeborenen nicht möglich. Daraus ergibt sich eine Schutzpflicht des Staates, sich schützend und fördernd vor dieses Leben zu stellen und es insbesondere vor rechtswidrigen Eingriffen von anderen zu bewahren.11 Ausfluß dieser staatlichen Verpflichtung ist das grundsätzliche Verbot der Schwangerschaftsunterbrechung nach § 218 I. Rechtsgut dieser Vorschrift ist demnach in erster Linie das keimende menschliche Leben im Mutterleib.12
Aus den Vorschriften der §§ 218 II 2, 218 a-c könnte man noch entnehmen, daß außerdem die Gesundheit der Frau bzw. deren Entscheidungsfreiheit weitere Rechtsgüter von § 218 bilden.13 Diese Frage kann aber dahinstehen, denn sie hat aber für den Schutz des ungeborenen bzw. geborenen Kindes keinerlei Bedeutung.
Der Tatbestand des Schwangerschaftsabbruchs erfaßt sowohl die Fremdabtreibung als auch die Selbstabtreibung durch die Schwangere.14 Tatobjekt ist die lebende Leibesfrucht, d. h. das befruchtete Ei nach Abschluß der Einnistung (sog. Nidation).15 Unerheblich ist aber, ob die Frucht geschädigt oder zum Absterben innerhalb des Mutterleibes bestimmt ist, ob sie ohnehin abgehen würde oder ob ein lebensunfähiges Kind entstehen wird.16 Ausgenommen vom Schutzbereich des § 218 sind nur krankhaft entartete Eier, sog. Molen.17 "Abbrechen der Schwangerschaft" bedeutet, daß ein Eingriff vorgenommen wird, mit dem während der Schwangerschaft, also vor Beginn der Geburt, auf die Leibesfrucht eingewirkt und dadurch deren Absterben herbeigeführt wird.18 Es reicht damit nicht aus, daß durch die Einwirkung lediglich die vorzeitige Geburt des Kindes herbeigeführt wird, wie z. B. durch Verabreichen wehenfördernder Mittel, die die Geburt einleiten oder beschleunigen. Ebenso verhält es sich, wenn im letzten Schwangerschaftstrimester die Geburt eines vermeintlich lebensfähigen Kindes veranlaßt werden soll, das aber bald nach der Geburt stirbt.19
Auf welche Art und Weise der Tod der Leibesfrucht herbeigeführt wird - ob unmittelbar, z. B. durch Absaugen oder Abschaben oder mittelbar durch die Einnahme von Medikamenten - und ob der Tod schon im Mutterleib eintritt oder erst nach Abgang der Frucht, ist unerheblich.20
Im römischen Recht wurde die Schwangerschaftsunterbrechung zunächst nur durch eine zivilrechtliche Schadensersatzpflicht sanktioniert.21 Für den Fetus, der als Teil des mütterlichen Körpers angesehen wurde, gab es anfangs keinerlei strafrechtlichen Schutz. Bestraft wurde die Schwangerschaftsunterbrechung erstmalig unter Septimius Severus (193 bis 211 n. Chr.), jedoch kann man hier auch noch nicht von einem Schutz des ungeborenen Lebens sprechen, denn geschütztes Rechtsgut war nicht die Leibesfrucht, sondern die Hoffnung des Mannes auf Nachkommen.22
Im späten Mittelalter war insbesondere im Kirchenrecht eine Bestrafung für die Tötung des Ungeborenen vorgesehen. Diese sollte aber erst mit "Beseelung" des Embryos einsetzen, denn man ging davon aus, daß vorher noch kein menschliches Leben vorhanden sei.
Man unterschied also zwischen einem straflosen Abbruch am Träger der "anima vegetiva" - der unbeseelten Leibesfrucht - und der Abtreibung eines beseelten Embryos - Träger einer "anima rationalis" -, die strafwürdig war. Von einer "Beseelung" der Leibesfrucht ging man bei Jungen ab dem 40. Tag, bei Mädchen ab dem 80. Tag der Schwangerschaft aus.23
Diese Unterscheidung, zwischen beseeltem und unbeseeltem Leben, deren Relikte sich auch noch im "Preußischen Allgemeinen Landrecht" wiederfanden, wurden erst im 19. Jh. endgültig aufgegeben; doch von nun an sprach man dem werdenden Leben von Beginn an eine eigenständige Schutzwürdigkeit zu.24 Bestraft wurde nicht mehr wie Totschlag oder Mord; und gleichzeitg verschwand auch die Sanktionierung der fahrlässigen Abtreibung, die noch im Codex Juris Bavarica Criminalis und in der Constitutio Criminalis Theresiana vorgesehen war.25
So lautete § 181 I des preußischen StGB: "Eine Schwangere, welche durch äußere oder innere Mittel ihre Frucht vorsätzlich abtreibt oder im Mutterleibe tödtet, wird mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren bestraft." Eine Strafbarkeit der fahrlässigen Abtreibung wurde mit der Begründung abgelehnt, daß "in Ermangelung jeder Charakterisierung der Handlungen dieselbe einer völlig willkürlichen, und zu chikanösen Ansprüchen führenden, Ausdehnung fähig sei, und ....[die]...Vorschriften über Körperverletzung genügten."26 Die Abtreibungsvorschriften des preuß. StGB in den §§ 181, 182 bildeten die Grundlage der ursprünglichen Fassung des § 218 (Bestrafung einer Schwangeren, "welche ihre Frucht vorsätzlich abtreibt oder im Mutteleib tötet") im Reichsstrafgesetzbuch von 1871.27
Besondere Vorschriften, die die generelle Strafbarkeit der Abtreibung einschränkten, gab es lange nicht. In den Fällen der sog. medizinischen Indikation bejahte das Reichsgericht aber eine Rechtfertigung der Abtreibung aus dem Gesichtspunkt des rechtfertigenden Notstandes.28
Während des Nationalsozialismus wurde in der Schwangerschaftsunterbrechung vornehmlich ein Angriff auf "Rasse und Erbgut" gesehen. Konsequenterweise waren Personen nichtdeutscher Abkunft vom Abtreibungsverbot ausgenommen.29 Eine Diskussion um die Strafbarkeit der Schwangerschaftsunterbrechung entflammte in den siebziger Jahren, denn diese wurde teilweise als unhaltbarer Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht der Frau empfunden.30 Im 5. StrRG von 1974 hatte sich der Gesetzgeber für eine Fristenregelung entschieden, wonach der Abbruch straflos blieb, wenn er innerhalb der ersten drei Schwangerschaftsmonate von einem Arzt mit Einwilligung der Schwangeren vorgenommen wurde.31 Diese Lösung hielt das BVerfG in seiner Entscheidung vom 25. 2. 1975 für verfassungswidrig.32 In seiner Begründung führte das BVerfG an, daß das sich im Mutterleib entwickelnde Leben als selbständiges Rechtsgut unter dem Schutz von Art. 2 II, 1 I GG stehe. Der Staat sei verpflichtet, sich während der gesamten Dauer der Schwangerschaft schützend und fördernd vor dieses werdende Leben zu stellen.33 Dadurch, daß die Abtreibung während der ersten 12 Wochen völlig in das Belieben der Schwangeren gestellt werde, entstehe eine Schutzlücke, die die Sicherung des werdenden Lebens insoweit beseitige.
Nachdem das BVerfG das 5. StrRG in seinen die Fristenregelung konstituierenden Teilen für grundgesetzwidrig und nichtig erklärt hatte, entschied sich der Gesetzgeber in dem 15. StÄG v. 18. 5. 1976 für eine Indikationenregelung: nach § 218 a StGB waren eine erweiterte medizinische Indikation, die Gefahr einer Schädigung des Kindes (kindliche Indikation), die auf Sexualdelikten beruhende Schwangerschaft (kriminologische Indikation) und eine allgemeine Notlagenindikation anerkannt.34
Dennoch ist auch in den folgenden Jahren die Diskussion um den § 218 nicht abgebrochen. Auf der einen Seite wurde die Abschaffung des § 218 gefordert, auf der anderen dessen Verschärfung.
Eine erneute Reform des § 218 wurde nach der Wiedervereinigung fällig. In den neuen Bundesländern galt nach wir vor die Fristenlösung des DDR-StGB. Nach längerer Diskussion wurde schließlich vom Bundestag ein Schwangeren- und Familienhilfegesetz35 beschlossen, dessen Kern eine Fristenlösung bildete, die eine "relativ neutrale" Beratung36 vorsah. Die Abtreibung sollte dann nicht rechtswidrig sein37.
Dieses Gesetz wurde jedoch vom BVerfG38 als Verfassungswidrig verworfen.39
Der sodann vom Bundestag beschlossene Entwurf40 fand jedoch keine Mehrheit im Bunderat. Der 13. Bundestag hat schließlich die jetzigen Fassung der § 218 ff. beschlossen.41 Die Beratung ist jetzt eindeutig auf den Schutz des werdenden Lebens ausgerichtet und der legale Schwangerschaftsabbruch soll lediglich den Tatbestand des § 218 nicht verwirklichen (und ihn nicht etwa rechtfertigen).
1 | Alle Paragraphen ohne nähere Bezeichnung sind solche des StGB. |
2 | Sch/Sch-Eser, Vor §§ 211ff., Rn. 12; LK-Jähnke, Vor § 211, Rn. 2; Lackner, Vor § 211, Rn. 1; SK-Horn, § 212, Rn. 3. |
3 | BGHSt 10, 291 (292); LK-Jähnke, Vor § 211, Rn. 5; Sch/Sch-Eser, Vor §§ 211f., Rn. 14; Lackner, Vor § 211, Rn. 3; SK-Horn; § 212, Rn. 3. |
4 | Sch/Sch-Eser, Vor §§ 211ff., Rn. 14; Lackner, Vor § 211, Rn. 3; LK-Jähnke, Vor § 211, Rn. 5 / 6. |
5 | LK-Jähnke, Vor § 211 Rn. 6; Sch/Sch-Eser, Vor §§ 211 ff Rn. 14; Lackner, Vor § 211, Rn. 3. |
6 | BGHSt 11, 15 (17); SK-Rudolphi, § 218, Rn. 13; Sch/Sch-Eser, § 218, Rn. 24; LK-Jähnke, § 218, Rn. 11. |
7 | Schwalm, MDR 1968, 277 (278); Lüttger, JR 1971, 133 (139). |
8 | BVerfGE 39, 1 (36); 88, 203 (251); Tröndle, vor § 218, Rn. 17; Reis, Geiger-FS, S. 113 (133). |
9 | BVerfGE 39, 1 (37). |
10 | BVerfGE 39, 1 (37). |
11 | BVerfGE 39, 1 (42). |
12 | BGHSt 28, 11 (15); Sch/Sch-Eser, Vor §§ 218 ff Rn. 9; LK-Jähnke, Vor § 218 Rn. 15; SK-Rudolphi, Vor § 218, Rn. 55. |
13 | Sch/Sch-Eser, Vor §§ 218ff., Rn. 12; Tröndle, Vor § 218, Rn. 17; Lackner, § 218, Rn. 1. |
14 | SK-Rudolphi, § 218, Rn. 2; Tröndle, § 218, Rn. 8; Lackner, § 218, Rn. 2. |
15 | SK-Rudolphi, § 218, Rn. 4; Tröndle, § 218, Rn. 3; LK-Jähnke, § 218 Rn. 2; Lackner, § 218, Rn. 8. |
16 | LK-Jähnke, § 218, Rn. 4. |
17 | RGSt 8, 198 (204); LK-Jähnke, § 218, Rn. 4; SK-Rudolphi, § 218, Rn. 7; Sch/Sch-Eser, § 218, Rn. 7. |
18 | Lackner, § 218, Rn. 3; Sch/Sch-Eser, § 218 Rn. 5; Lüttger, NStZ 1983, 481; Arzt, FamRZ 1983, 1019. |
19 | Sch/Sch-Eser, § 218 Rn. 19; Tröndle, § 218, Rn. 6; LK-Jähnke, § 218 Rn. 6; Lackner, § 218, Rn. 5. |
20 | Lackner, § 218, Rn. 4; Sch/Sch-Eser, § 218 Rn. 20; SK-Rudolphi, § 218, Rn. 11. |
21 | LK-Jähnke, Vor § 218 Rn. 3; Maurach /Schroeder / Maiwald, BT/1, § 5, Rn. 1. |
22 | LK-Jähnke, Vor § 218 Rn. 3; Maurach /Schroeder / Maiwald, BT/1, § 5, Rn. 1; Radbruch, Recht und Medizin 1990, S. 90; Welzel, BT, S. 299. |
23 | LK-Jähnke, Vor § 218 Rn. 3; Maurach /Schroeder / Maiwald, BT/1, § 5 Rn. 1; Welzel, BT, S. 299. |
24 | Maurach /Schroeder / Maiwald, BT/1, § 5, Rn. 1; Goltdammer, Materialien zum preuß. StGB, S. 388. |
25 | Maurach /Schroeder / Maiwald, BT/1, § 5, Rn. 1; Tepperwien, Praenatale Einwirkung, S. 116. |
26 | Goltdammer, Materialien zum preuß. StGB, S. 391. |
27 | Maurach /Schroeder / Maiwald, BT/1, § 5 Rn. 1. |
28 | RGSt 61, 242 (256); SK-Rudolphi, Vor § 218, Rn. 1; Maurach /Schroeder / Maiwald, BT/1, § 5 Rn. 3. |
29 | Maurach / Schroeder / Maiwald, BT/1, § 5, Rn. 3. |
30 | SK-Rudolphi, Vor § 218, Rn. 2; LK-Jähnke, Vor § 218, Rn. 4. |
31 | SK-Rudolphi, Vor § 218, Rn. 4; § 218a i.d.F. des 5. StrRG. |
32 | BVerfGE 39, 1ff. |
33 | BVerfGE 39, 1 (41ff, 50). |
34 | BGBl. 1976 I, 1213; SK-Rudolphi Vor § 218, Rn. 8. |
35 | BGBl. 1992 I, 1398. |
36 | Vgl. § 219 I des Entwurfes. |
37 | Vgl. § 218a I des Entwurfes. |
38 | BVerfGE 88, 203 ff. |
39 | Vgl. zur neueren geschichtlichen Entwicklung: Sch/Sch-Eser, Vor §§ 218ff., Rn. 3-6. |
40 | BT-Drucks. 12/8276. |
41 | BT-Plenar-Prot. der 42. Sitzung 13/3753 ff. |