Das Vorsatzdelikt

Der Gesetzgeber hat auf eine Legaldefinition des Vorsatzes verzichtet. Im Wege des Umkehrschlusses läßt sich allerdings aus § 16 I ableiten, daß der vorsätzlich handelnde Täter bei Begehung der Tat Kenntnis von allen Umständen haben muß, die zum gesetzlichen Tatbestand gehören. Die herrschende Meinung geht über diese Auslegung hinaus und sieht im Vorsatz den Willen zur Verwirklichung eines Straftatbestandes in Kenntnis aller seiner objektiven Tatumstände (Kurzformel: Wissen und Wollen der Tatbestandsverwirklichung).


Das Wissenselement des Vorsatzes

Im Wissensbereich setzt vorsätzliches Handeln voraus, daß der Täter bei Begehung der Tat alle strafbegründenden und strafschärfenden Umstände des objektiv verwirklichten Straftatbestandes gekannt hat. Seine Vorstellung muß die konkrete Tat in ihren Grundzügen, die tatbestandsrelevanten Besonderheiten der Ausführungshandlung, den von ihm ins Auge gefaßten Eintritt des tatbestandlichen Erfolges, den Kausalverlauf in seinen wesentlichen Umrissen sowie alle sonstigen Merkmale des objektiven Unrechtstatbestandes umfassen (so die h.M.).1
Diese Sichtweise ist zumindest ungenau: Niemand kann z.B. um den Eintritt des Erfolges wissen. Ansatzpunkt muß vielmehr sein, daß der Täter sein Verhalten als tatbestandsmäßig erkannt hat.
Fehlende Kenntnis läßt sich im Vorsatzbereich nicht dadurch ersetzen, daß der Täter zu der entsprechenden Vorstellung hätte gelangen können. Andererseits kann Vorsatzwissen als aktuelle Kenntnis der Tatumstände in Gestalt eines sachgedanklichen Mitbewußtseins und eines ständig verfügbaren Begleitwissens vorliegen. Zeitlicher Bezugspunkt ist demnach der Tatzeitpunkt, in ihm muß der Vorsatz vollständig gegeben sein (Simultanitätsprinzip).
Ferner wird für den Tatbestandsvorsatz nicht verlangt, daß der Täter den ihm bekannten Sachverhalt juristisch exakt subsumiert. Bei Begriffen, die einen wahrnehmbaren Gegenstand beschreiben (deskriptive Tatbestandsmerkmale) - z. B. Mensch, Sache, Wohnung -, muß der Täter eine hinreichende Vorstellung von diesen Gegenständen haben. Bei Begriffen, deren Inhalt nur im Wege einer ergänzenden Wertung festgestellt werden dann (normative Tatbestandsmerkmale) - z.B. die "Fremdheit" einer Sache - muß der Täter zusätzlich zur Kenntnis der Tatsachen deren rechtlich-sozialen Bedeutungsgehalt nach Laienart richtig erfaßt haben (= Parallelwertung in der Laiensphäre).


Das voluntative Element des Vorsatzes

Auf der Willensseite setzt der Vorsatz als voluntatives Element eine bestimmte psychische Einstellung des Täters zur Tatbestandsverwirklichung voraus.
In wie weit, ein solches voluntatives Vorsatzelement Berechtigung hat, ist zumindest zweifelhaft. Welche Einstellung der Täter zur Tat hat, ist in der Regel irrelevant für die Frage des Tatbestandes. Wer weiß, daß sein Verhalten, eine bestimmte Folge haben wird (kann!) und dennoch handelt, wird schwerlich behaupten können, er habe es nicht gewollt. Abzustellen ist also besser auf die konkrete Wissensbasis des Täters (Wer riskant, überholt, weiß, um die abstrakte Möglichkeit eines Unfalls, geht aber davon aus, daß kein anderes Auto kommen wird, hat also in der Regel keinen Vorsatz für ein Körperverletzungs- oder Tötungsdelikt.).
In jedem Fall sollte der Schwerpunkt der Prüfung auf dem Wissenselement liegen!


Unterschiedliche Vorsatzformen

Die h.M. benötigt ein voluntative Vorsatzelement um unterschiedliche Vorsatzformen abgrenzen zu können, was freilich erst bei der Abgrenzung zur "bewußten Fahrlässigkeit" relevant wird.


I. Absicht (dolus directus 1. Grades)

Absicht ist durch ein gesteigertes Element des "Wollens" gekennzeichnet. Dem Täter kommt es gerade darauf an, den tatbestandlichen Erfolg herbeizuführen. In diesem Zusammenhang ist es ohne Bedeutung, ob sich der Täter die Tatbestandsverwirklichung als sicher oder nur als möglich vorstellt.


II. Direkter Vorsatz (dolus directus 2. Grades)

Im Gegensatz zur Absicht überwiegt beim direkten Vorsatz das "Wissenselement". Das heißt, der Täter weiß oder sieht als sicher voraus, daß seine Handlung den tatbestandlichen Erfolg verwirklichen wird. Ohne Bedeutung ist es wenn dem Täter die eine oder andere Auswirkung seines Tuns "an sich unerwünscht" ist.


III. Eventualvorsatz (dolus eventualis)

Eventualvorsatz ist anzunehmen, wenn der Täter den tatbestandlichen Erfolg ernstlich für möglich hält und sich damit abfindet. Hierbei handelt es sich um die "Grundform" des Vorsatzes. Ist im Gesetz keine besondere Vorsatzform gefordert, ist immer Eventualvorsatz ausreichend. Äußerst umstritten ist die Abgrenzung des dolus eventualis von der bewußten Fahrlässigkeit


Abgrenzung von dolus eventualis zu "bewußter Fahrlässigkeit"

Theorie ohne Einbeziehung eines voluntativen Vorsatzelementes:

1. Die Wahrscheinlichkeitstheorie nimmt dolus eventualis bereits dann an, wenn der Täter die Rechtsgutsverletzung für wahrscheinlich gehalten hat (Wissenselement).
Kritik: Das Kriterium der Wahrscheinlichkeit im Täterbewußtsein ist untauglich, weil auch der subjektiv wenig wahrscheinliche Erfolg vom Vorsatz umfaßt sein kann.

2. Nach der Möglichkeitstheorie soll Eventualvorsatz schon dann vorliegen, wenn der Täter die konkrete Möglichkeit der Rechtsgutsverletzung erkannt und dennoch gehandelt hat (hier wird also auf das Wissenselement abgestellt!).
Kritik: Der Vorsatz wird zu weit in den Bereich der bewußten Fahrlässigkeit ausgedehnt, weil nicht beachtet wird, welche Erwägungen den Täter zum Durchhalten des Handlungsentschlusses bestimmt haben (z.B. gefährliches Überholen um schneller ans Ziel zu kommen).

3. Stellt man streng auf die psychologische Wissensbasis bezüglich des anvisierten Handlungsprojektes im Tatzeitpunkt ab, läßt sich sehr wohl eine Abgrenzung zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit vornehmen: Der konkrete Wissenshorizont des rasanten Autofahrers ist im Zeitpunkt des gefährlichen Überholens darauf gerichtet, daß kein anderes Auto kommen wird! Hiervon läßt sich die Frage abschichten, ob er abstrakt die Möglichkeit eines anderen Autos hätte erkennen können.


Theorie unter Einbeziehung eines voluntativen Vorsatzelementes:

1. Nach der Gleichgültigkeitstheorie soll Eventualvorsatz schon dann vorliegen, wenn der Täter keinerlei innere Stellungnahme zum Erfolg besitzt (Wollenselement).
Kritik: Es wird nicht auf den Willen abgestellt.

2. Überwiegend wird vertreten, daß Eventualvorsatz vorliegt, wenn der Täter sich auch durch die naheliegenden Möglichkeit des Erfolgseintritts sich von der Tatausführung hat abhalten lassen und sein Verhalten den Schluß rechtfertigt, daß er sich um des von ihm erstrebten Zieles willen mit dem Risiko der Tatbestandsverwirklichung abgefunden hatte, also eher zur Hinnahme dieser Folge bereit war als zum Verzicht auf die Vornahme der Tathandlung (es wird auf das Wollenselement abgestellt).
Im Gegensatz dazu ist bewußte Fahrlässigkeit nur anzunehmen, wenn der Täter fest darauf vertraut hat, daß "alles gut gehen" und daß es ihm gelungen werde, den drohenden Erfolgseintritt und die Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestandes zu vermeiden. (Merksatz: "Sei's drum!" - "Es wird schon gut gehen!")

3. Die Rechtsprechung geht von Eventualvorsatz aus, wenn der Täter den für möglich gehaltenen Erfolg billigend in Kauf genommen hat. Die "Billigung" des Erfolges wird angenommen, wenn der Täter sein Vorhaben trotz äußerster Gefährlichkeit durchführt, ohne auf einen glücklichen Ausgang vertrauen zu können, und wenn er es dem Zufall überläßt, ob sich die von ihm erkannte Gefahr verwirklicht oder nicht. Im Ergebnis deckt sich die Rechtsprechung weitgehend mit der unter 2. dargestellten Auffassung.


Der Tatbestandsirrtum und seine Abgrenzung

§ 16 schließt bei einem Irrtum über einen Umstand, der zum gesetzlichen Tatbestand gehört, den Vorsatz aus. Ein solcher Irrtum kann sowohl auf der Unkenntnis als auch auf einer Fehlvorstellung des Täters beruhen.
(Im Gegensatz hierzu fällt der Vorsatz nicht weg, wenn der Täter sich zu seinen Ungunsten irrt und einen Tatumstand annimmt, der in Wirklichkeit nicht vorliegt. Dieser "umgekehrte Tatbestandsirrtum" führt ggf. zur Strafbarkeit wegen untauglichen Versuchs iSd. §§ 22, 23 III.)


I. Irrtum über das Handlungsobjekt (= error in persona vel objecto)

Von einem Irrtum über das Handlungsobjekt spricht man bei Fehlvorstellungen, die sich auf die Identität oder sonstige Eigenschaften des Tatobjekts oder der betroffenen Person beziehen. Nach § 16 I 1 wirkt sich ein solcher Irrtum auf den Vorsatz nur dann aus, wenn es aus der Sicht des Handelnden an der tatbestandlichen Gleichwertigkeit zwischen dem vorgestellten und dem tatsächlich angegriffenen Objekt fehlt.2 Sind die Objekte, um die es nach der Sachverhaltsvorstellung des Handelnden geht, dagegen tatbestandlich gleichwertig, so ist die Objektsverwechslung für die Strafbarkeit des Irrenden ohne Bedeutung, weil Bezugspunkte des Vorsatzes nur die äußeren Tatumstände, nicht aber die mit der Tat verbundenen Beweggründe oder Fernziele sind.3 (Bsp.: Schuß auf A, der mit B verwechselt wird. § 212 verbietet das Töten von Menschen nicht bloß von B!)


II. Fehlgehen der Tat (= aberratio ictus)

Ein Fehlgehen der Tat wird dann angenomen, wenn der Täter mit seiner Handlung nicht das anvisierte Objekt, sondern ein anderes Objekt trifft. Im Unterschied zur Objektsverwechslung sind hier Angriffs- und Verletzungsobjekt verschieden: Die gewollte Verletzung bleibt aus, während der tatsächlich eingetretene Verletzungserfolg nicht gewollt ist. In diesen Fällen kommt nach h.M. hinsichtlich der beabsichtigten Tat am Zielobjekt nur Versuch und hinsichtlich der ungewollten versehentlichen Verletzung des Zweitobjekts nur eine Fahrlässigkeitstat in Betracht.4
(Nach anderer Ansicht sei in den Fällen des aberratio ictus wegen vorsätzlichem vollendeten Delikts zu bestrafen, da nach § 16 eine Individualisierung des Tatobjekts nicht erforderlich sei und ein genereller Vorsatz der Tatbestandsverwirklichung für die Strafbarkeit ausreiche. Kritik: Hat der Täter eine Objektsindividualisierung vorgenommen und damit seinen Vorsatz konkretisiert, darf ihm nicht ein davon zu unterscheidender genereller Vorsatz unterstellt werden. Denn entscheidend ist allein, ob der Täter seine konkrete Vorstellung von der Tat im Wesentlichen verwirklicht hat.)


III. Irrtum über den Kausalverlauf

Der Tatbestandsvorsatz muß auch den Kausalverlauf in seinen wesentlichen Grundzügen erfassen. Nach überwiegender Auffassung sind Abweichungen zwischen dem vorgestellten und dem wirklichen Kausalverlauf dann für die Bewertung des Tatbestandsvorsatzes ohne Bedeutung, wenn sie sich noch in den Grenzen des nach allgemeiner Lebenserfahrung Vorsaussehbaren halten und keine andere Bewertung der Tat rechtfertigen.5
Im Jauchegruben-Fall kommt die Lehre vom "unwesentlichen Abweichen des Kausalverlaufs" demnach zu einer Bejahung des Vorsatzes.
Zu einem anderen Ergebnis gelangt man, wenn man als Bezugspunkt für den Vorsatz die normativ zu ermittelnde Gefahr nimmt, die - vorsätzlich - durch die Tat geschaffen wird. So umfaßt die Gefahr eines Schusses in Richtung Herz auch die Möglichkeit eines Kopftreffers. Beide Erfolge sind gleichwertig, es kommt für den Vorsatz nur auf die allgemeine Möglichkeit eines tödlichen Treffers an. Nicht erfaßt wird hingegen das Ertrinken beim Beseitigen der "Leiche", die zuvor "erstickt" wurde. Denn die Todesherbeiführung ist nach Lage des Falles gerade nicht als Realisierung der spezifischen Gefährlichkeit vorsätzlichen Tötungsverhaltens zu begreifen.6


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1    Wessels/Beulke, AT, Rdn. 238.
2    Wessels/Beulke, AT, Rdn. 247.
3    Wessels/Beulke, AT, Rdn. 249.
4    Wessels/Beulke, AT, Rdn. 250.
5    Vgl. etwa Wessels/Beulke, AT, Rdn. 262 ff.
6    Vgl. etwa Freund, AT, § 7 Rdn. 115 ff, insb. 143.